„Der König von England (oder nach andern ein englischer Feldherr) kam, von einem einzigen Diener begleitet, auf das Eichsfeld. Von der Nacht überrascht, gelangte er in das Dorf Flinsberg, und da es dort an einem Wirtshause mangelte, kehrte er bei dem Küster ein, der gerade das Tauffest seines Kindes feierte und, obwohl es schon spät war, noch mit mehreren seiner Gäste beim Becher saß. Der gastfreie Küster lud den König freundlich ein, sich an der Tafel niederzulassen, und dieser ließ sich auch nicht lange bitten und fühlte sich in dem fröhlichen Kreise bald wohl.
Unter den Gästen befand sich aber auch der Vogt vom Bischofstein, ein böser, geldgieriger Mann, der bald merkte, dass der Fremde viel Gold und Edelsteine mit sich führte, wodurch seine Habsucht geweckt wurde.
Er erkundigte sich daher im Laufe des Gespräches nach der Zeit, zu welcher der König aufzubrechen und nach der Richtung, welche er einzuschlagen gedenke. Am anderen Tag legte er sich zur bezeichneten Stunde mit einigen seiner Leute bei Ascherode in einen Hinterhalt und stürzte, als der Erwartete endlich herankam, aus seinem Versteck hervor und tötete ihn.
Der Diener, welcher an der Seite seines Herrn sich tapfer gewehrt hatte, wandte, als er denselben stürzen sah, eiligst sein Pferd und floh. Der Ritter und seine Knappen verfolgten den Flüchtigen zwar eine Weile, ließen, aber bald von ihm ab, da sie die erbeuteten Schätze näher betrachten wollten. Sie plünderten den Erschlagenen aus, warfen ihn in einen Brunnen und zogen jubelnd nach dem Bischofstein.
Als die Gattin des Gemordeten den Tod des geliebten Mannes erfuhr, weinte und klagte sie sehr, doch bald drängte der Gedanke, ihren Gatten zu rächen, alle anderen Gefühle in den Hintergrund. Sie sammelte ihre Getreuen um sich, fuhr über das Meer und gelangte, von ihrem Diener geführt, endlich auf das Eichsfeld.
Der Diener wusste nur ungefähr, aber nicht mehr ganz genau die Stelle zu finden, wo sein Herr ermordet worden war, ja, er konnte sich nicht einmal auf den Namen des Ortes besinnen, bei welchem die Untat geschehen war. Nur so viel war ihm noch erinnerlich, dass er auf „rode“ geendet hatte.
Auf diese Angabe hin zerstörte das Fräuwechen von Engeland" – so nennt man noch heute diese Rache übende Frau – alle Dörfer der Gegend, welche auf „rode“ endigten. Endlich erfuhr sie jedoch, wer der eigentliche Mörder gewesen sei und rückte vor die Feste Bischofstein.
Der Bischofsteiner lachte aber nur des Fräuwechens von Engeland und aller seiner Anstrengungen, die Burg zu erobern, wunderte sich aber doch über die Kühnheit der jungen Frau, die sich häufig bis dicht unter die Mauern des Schlosses wagte. Man hinterbrachte ihm jedoch, da der silberne Schuppenpanzer, den die Heldin trage, gefeit sei. Und nun lud er eine ebenfalls gefeite Kugel, welche von Silber und nicht viel größer als eine Erbse war, in sein Geschoß, zielte damit auf seine Gegnerin und durchbohrte ihr das Herz, so dass sie lautlos zu Boden fiel. Da gab es unter ihren Dienern und Kriegern viel Jammer und Klagen. Sie sammelten sich um den Leichnam, bestatteten ihn mit großen Ehren und setzten einen Denkstein auf die Gruft, der die „Frauenruh“ genannt wurde. Dann aber stürmten sie in wilder Wut die schwindelnde Höhe zur Burg hinauf, eroberten diese, schlugen alles nieder, was sich widersetzte, und stürzten die Mauern ein.“
Aus Rudolf Linge „Der Hahn auf dem Kirchdach“